Am 20. September wurde das 10-jährige Bestehen des Gartens der Begegnung begangen. Titel des ganztägigen Festes: „Von Refugees Welcome zur Abschiebegesellschaft“.

10 Jahre nach dem langen Sommer der Flucht hat mittlerweile jede Zeitung, jeder Fernsehsender, jede Radiostation und jeder Podcast, der etwas auf sich hält, einen Rückblick oder eine Analyse zu „10 Jahre 2015“ gebracht. Es scheint, es wurde alles gesagt, aber nur noch nicht von jedem. Schlagwörter wie „Flüchtlingskrise“ oder „Kontrollverlust“ oder „Ausgangsbasis für Aufstieg der Rechten“ haben nirgendwo gefehlt. Was passiert da?

Durch die Entlehnung von Begriffen wie „Strom“, „Flut“, „Lawine“ oder „Tsunami“ aus dem Bereich der Naturkatastrophen wurden zwei Dinge erreicht: Erstens wurden dadurch die Geflüchteten entmenschlicht, sie wurden als etwas dargestellt, was uns wie Wasser, Schnee oder Wind überwältigt. Mit Wasser und Schnee hat man keine Empathie. Wenn man keine Empathie mehr für Mitmenschen hat, dann wird es gefährlich.

Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen, zu verstehen und nachzufühlen. Grundwerte wie die Geltung der Menschenwürde für alle
Menschen, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und vor allem die Gleichheit aller Menschen sind ohne Empathie nicht denkbar. Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechts
konvention sind ohne Empathie nicht denkbar: Die Einigung auf diese zentralen Dokumente war kein selbstloser oder humanitärer Akt von über 140 Staaten. Es war die geronnene Erkenntnis aus der
Shoah, den ärgsten menschengemachten Gräueln, die der Kontinent Europa erlebt hat.

Danke für Eure Empathie, jetzt und in den letzten 10 Jahren. Lasst sie euch nicht schlecht reden! Lasst sie euch nicht wegnehmen!

Der Staat und seine Strukturen haben versagt.

Und jetzt komme ich zum zweiten Zweck, warum die Geschehnisse rund um 2015 gerne als Ergebnis einer über uns hereinbrechenden Naturgewalt dargestellt werden: So wird nämlich suggeriert, man sei den Geschehnissen hilflos ausgeliefert gewesen. Der Fokus liegt auf der Wucht der Naturgewalt, gegen die man sich nicht schützen konnte. Damit soll der Eindruck entstehen: „Wir haben dafür keine Verantwortung. Es war auf einmal da.“.
Ja, es hat einen Kontrollverlust gegeben 2015. Die staatlichen Behörden waren vollkommen überfordert und desorganisiert. Aber niemand soll mir erzählen, dass es keine Signale gegeben hat, dass passieren würde, was passiert ist.

Man kann Truppenbewegungen in weit entfernten Kriegssituationen in der Nacht beobachten, aber man hat nicht gewusst oder wissen können, dass sich über eine Million Menschen auf den Weg nach Europa machen? Das ist unglaubwürdig und wir wissen, dass es die Informationen gab. Sie wurden nur nicht gesehen oder falsch interpretiert.

Der Staat und seine Strukturen haben versagt, die Zivilgesellschaft ist eingesprungen. Es wurden Menschen versorgt und untergebracht, informiert und transportiert. Es wurde mit Menschen geredet. Der Anspruch war, sie als das zu behandeln, was sie sind: als Menschen. Die staatliche Desorganisation wurde
durch die zivilgesellschaftliche Organisation kompensiert, die Zivilgesellschaft hat durch ihr Tun den staatlichen Strukturen ermöglicht, die Lähmung abzulegen und sich zu organisieren.
Oder überspitzt gesagt: Die Zivilgesellschaft hat dem Staat den Arsch gerettet. Das ist 2015 passiert.
Das wurde von den verantwortlichen Politiker:innen seitdem vollkommen auf den Kopf gestellt. Man will sich nicht die Blöße geben: Deswegen werden lieber Bilder von Naturgewalten bemüht, anstatt dass Verantwortung übernommen wird. Das gipfelt in der absurden Verdrehung, dass jene, die dem Staat den Arsch gerettet haben, nun als die Naivlinge dargestellt werden. Es wird ihnen gar die Schuld dafür gegeben, dass es zu dem Kontrollverlust gekommen ist. Lasst Euch das nicht erzählen. Der Staat ist für den Kontrollverlust ganz alleine verantwortlich.

Es war die Bevölkerung, die Zivilgesellschaft, die das Versagen der staatlichen Strukturen kompensiert hat.

Es ist auch ein Versagen der staatlichen Strukturen, dass sie es nicht einmal schaffen, sich bei den vielen Einzelpersonen, Vereinen und Organisationen der Zivilgesellschaft zum 10. Jahrestag zu bedanken.

Wir warten nicht darauf, bis das Danke kommt. Deswegen machen wir auch die Bedankung selbst: Danke für Euer Tun!


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