Schüler:innen mit anderer Erstsprache. England und Österreich im Vergleich.

Jedes Jahr zu Schulbeginn und zu populistischen Zwecken, auch immer öfters während des Jahres, wird in Österreich mit dem Finger auf Schüler:innen mit Migrationsgeschichte gezeigt, deren Deutschkenntnisse noch nicht fortgeschritten sind. Jedes Jahr wiederholen sich die bekannten Stigmatisierungen wie „die Ausländer(kinder) sind für die Misere verantwortlich“.
Von Isabella Maurer
In Großbritannien ist eine Stigmatisierung von Kindern mit andere Erstsprache im öffentlichen Diskurs nicht im gleichen Maße diskriminierend und defizitorientiert wahrnehmbar. Im Gegenteil, in West-London, im Stadtteil Hounslow, der auch als indische Diaspora bezeichnet wird, sticht z. B. das Willkommensschild einer durchschnittlichen, öffentlichen Volksschule hervor. In England, dessen Integrationspolitik dem Multikulturalismus[1] zugeordnet werden kann, gibt es aufgrund von historischen Migrationsbewegungen andere Entwicklungen als in Österreich.
Trotzdem kann der Vergleich der Politiken beider Staaten neue Perspektiven für die Debatte um die Verschränkung von Migrations- und Bildungspolitik aufzeigen.
Historischer Überblick Österreich
Österreich ist maßgeblich durch die Tradition eines auf dem Abstammungsprinzip[2] aufbauenden Nationsmodells geprägt. Für die Sozialanthropologinnen Jelena Tosic und Anna Streissler ist die Situation im Bildungsbereich ein Zeichen dafür, dass sich Österreich nie als Einwanderungsland gesehen hat. Es wurden keine adäquaten Integrationskonzepte für Gastarbeiter:innen und deren Kinder entwickelt. Die Situation der zweiten Generation wurde von der Politik lange ausgeblendet. Daher ist die Lage ähnlich wie in Deutschland, stark durch strukturelle Diskriminierung im Bildungsbereich und in der Folge am Arbeitsmarkt gekennzeichnet. In Bezug auf das Schulsystem meint die ehemalige AHS-Schuldirektorin Heidi Schrodt, dass erst als klar wurde, dass die Gastarbeiter:innen bleiben würden, es gesetzliche Änderungen gegeben hat. Interkulturelles Lernen war z. B. in den 1990ern erstmals eine Reaktion auf die sich verändernde Schullandschaft, die eher den Charakter einer Reparaturmaßnahme als einer Neuorientierung hatte. Migrationsexpert:innen sprechen von einer „ethnischen Segmentierung“ der Schule und des Arbeitsmarktes in Österreich. Das selektive Schulsystem und die strukturellen Bedingungen des Arbeitsmarktes reproduzieren ethnisierte Gruppen mit wenig Bildungschancen.
Mehrsprachigkeit im Pflichtschulsystem in Österreich
Langjährige Unterrichtszugänge für Schüler:innen mit anderer Erstsprache sind in Österreich folgende: Das Unterrichtsprinzip „Interkulturelles Lernen“, „Deutsch als Zweitsprache (DaZ)“ und „Muttersprachlicher Unterricht“. Kürzlich neu eingeführte lehrplanübergreifende Konzepte, die vom Lehrpersonal berücksichtigt werden sollten, sind „Sprachliche Bildung und Lesen“ und „Sprachsensibler Unterricht“.
„Interkulturelles Lernen“ wurde Mitte der 1990er Jahren in den Lehrplänen der Volks- und Hauptschulen eingeführt. Kulturelle Vielfalt sollte als wertvoll erfahren werden und zum gegenseitigen Verständnis und Wertschätzung sowie zum Abbau von Vorurteilen beitragen. Die Umsetzung war jedoch nicht stringent, da klare Richtlinien, deutliche Vorgaben und intensive Wissens- und Kompetenzvermittlung fehlten. Die praktische Umsetzung blieb dem Engagement einzelner Lehrkräfte überlassen.
„Deutsch als Zweitsprache (DaZ)“ ist in Pflichtschulen seit Beginn des Schuljahres 1992 Bestandteil des Regelschulwesens. Durch eine Reform 2018/2019 wird diese Maßnahme als „Deutschfördermodell“ bezeichnet. Dies ist ein zusätzliches Lernkonzept, das jederzeit begonnen werden kann. Schüler:innen können an diesem Unterricht bis zu zwölf Stunden in der Woche teilnehmen. Dabei wird der „außerordentliche Status“ an Schüler:innen vergeben, die auf Grund von noch zu geringen Deutschkenntnissen dem Regelunterricht nicht folgen können. Die Kenntnisse werden seit einigen Jahren mit einem Test erhoben. Der außerordentliche Status ist umstritten, Kritiker:innen fürchten um die Gleichstellung und die Chancengerechtigkeit.
Eine weitere Herangehensweise ist der Erstsprachenunterricht, vormals Muttersprachenunterricht. Dieserist ebenfalls seit 1992 Teil des österreichischen Regelschulwesens. Auf diesen gibt es keinen Rechtsanspruch, zudem ist kein Mindestausmaß festgelegt. Dies führt dazu, dass oft nur wenige Stunden aufgrund von mangelnder Ressourcen möglich sind. Die ehemalige Leiterin des Referats für Migration und Schule im Bildungsministerium, Elfie Fleck, beklagt erhebliche Mängel in den 30 Jahren der Umsetzung.
Hinzu kommt, dass es an Wissen über den Umgang mit mehrsprachigen Kindern mangelt. An Pädagogischen Hochschulen wurden oft nur wenige Lehrveranstaltungen zu dieser Thematik angeboten. Jedoch kann in den letzten Jahren eine Zunahme an Lehrgangsangebot beobachtet werden.
Historischer Überblick England
In den 1950er Jahren wanderten aufgrund des veränderten Staatsbürgerschaftsgesetztes von 1948 vermehrt Immigrant:innen aus Commonwealth-Ländern ein. Auch hier wurde anfangs angenommen, die Migrant:innen würden nur vorübergehend bleiben. Bis in die 1970er Jahre war daher die Einwanderungspolitik auch auf Assimilation ausgerichtet. Aus der Kritik dessen wurden gegen Ende der 1970er Jahre „multikulturelle“ Ansätze entwickelt.
Antidiskriminierungsgesetze, die zentral für die englische Bildungspolitik sind, fanden Ende der 70er Jahre Eingang im Bildungsbereich. Die neoliberale Politik der 80er Jahre war wiederum von assimilationsorientierten Positionen überlagert. Durch die Einführung neoliberaler Marktprinzipien im Schulwesen durch Thatcher kam es zu sozialen und ethnischen Segregationsprozessen, was erhebliche Konsequenzen für die Ausbildungssituation von Kindern mit Migrationsbiografie hatte.
Ende der 1990er rückte die Bildungsbenachteiligung von Minderheiten in den Blickpunkt. Der MacPherson Report von 1999, der den institutionellen Rassismus der Gesellschaft aufzeigte, hatte entscheidende Konsequenzen für bildungspolitische Diskussionen in England. Schulen wurden daraufhin dazu verpflichtet, Formen struktureller Diskriminierung zu bekämpfen. Vom Office for Standards in Education (Ofsted) geforderte Strategien waren z. B. eine Auseinandersetzung mit Stereotypisierung und Rassismus, Reflexion der Erwartungshaltung und Vorurteile der Lehrer:innen.
Mehrsprachigkeit im Pflichtschulsystem in England
Sogenannte separate Förderklassen („withdrawal“-Klassen) wurden in England bereits im Jahr 1985 abgeschafft. Es herrschte die Meinung, dass ein Unterricht in Regelklassen, d.h. „mainstream“-Klassen die bessere Lösung seien, vor allem aus einem politisch und ethisch fundierten Antirassismus. „Mainstreaming“ wurde nach und nach umgesetzt und beeinflusst nach wie vor die Bildungspolitik. Kritiker:innen monieren allerdings, es werde Offenheit gegenüber Vielfalt suggeriert, unterschiedliche Startbedingungen hingegen werden ausblendet. Indirekt werden so Kinder mit englischer Muttersprache bevorzugt und wegen der Anforderungen an das Standardenglisch, Schüler:innen mit anderer Erstsprache benachteiligt.
Auf der anderen Seite gibt es in England mehr Autonomie der Schulen, was dazu führt, dass Fördergelder an die Bedürfnisse der jeweiligen Schule angepasst werden können, sofern die Ressourcen ausreichend sind. Ein Beispiel sind die sogenannten „Interventions“ als Einzel- oder Gruppenübungen in Bezug auf verschiedene Fächer, Fähigkeiten oder andere Schwierigkeiten.
In Bezug auf die Ausbildung des Lehrpersonals gibt es seit dem Jahr 2002 zusätzliches verpflichtendes Lehrangebot, u. a. für „EAL“-Schüler:innen – English as additional Language. Neuere Standards dieser Qualifizierung verlangen ein Verständnis der Diversität aller Schüler:innen. Die Linguistin Tracey Costley argumentiert, dass von Lehrpersonen viel abverlangt wird. Dies erzeugt Druck auf Pädagog:innen alles unterzubringen und Kompromisse betreffend der Lerninhalte sind die Folge.
Die Rolle von Segregation in beiden Ländern
Viele Eltern bemühen sich schon Jahre vor Schuleintritt um einen Platz in einer bestimmten Schule. Schulstandorten mit einem Einzugsgebiet in sozial benachteiligten Stadtteilen und mit einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationsgeschichte wird dabei meist eine mindere Qualität zugeschrieben. Im Zuge der Wohnraumsegregation kommt es automatisch zur Über- und Unterrepräsentation von Kindern mit Migrationsbiografie. Ein wesentlicher Teil der Schulsegregation ist demnach in der Wohnraumsegregation begründet, noch bevor es zu institutionellen Selektionsprozessen im Bildungssystem kommt. Segregation ist daher bereits in Kindergärten und Volksschulen feststellbar. Die höchste soziale Segregation im Schulsystem weist unter 27 Ländern Ungarn auf, gefolgt von Belgien, Deutschland und Österreich[3]. Dies steht laut Barbara Herzog-Punzenberger, Rektorin der PH-Wien, im Zusammenhang mit der frühen Trennung durch Leistungsbeurteilung nach der vierten Schulstufe. Länder mit einer späteren Trennung bzw. einem Gesamtschulsystem weisen eine geringere Segregation auf. Für Heidi Schrodt ist die bitterste Hürde jene mit vierzehn Jahren, da Schüler:innen, die noch nicht gut Deutsch sprechen, oft in keiner Ausbildung oder weiterführenden Schule aufgenommen werden.
In England wurde Mitte der 90er Jahre ein neoliberales schulisches Marktmodell eingeführt – das Ofsted Schoolrating. Eltern sollten als Kund:innen verstanden werden und aufgrund von veröffentlichten Leistungsergebnissen mit elf Jahren und dann mit 16 Jahren nach den GCSE-Prüfungen (General Certificate of Secondary Education) eine Schule aussuchen können. Vor allem letztere sind das zentrale Selektionsinstrument beim Zugang zum Arbeitsmarkt und weiterer Bildung. Spitzenplätze der Rankings sind meist von Privatschulen besetzt, öffentliche Gesamtschulen, die keine Aufnahmeselektion betreiben, bilden die Schlusslichter. Aus diesen Gründen melden sich kaum Schüler:innen der Mittelschicht auf Schulen mit einem hohen Migrant:innenanteil an und strukturelle Benachteiligung wird damit reproduziert. In Schulen mit einem hohen Grad an Diversität wird oft wertvolle pädagogische Arbeit geleistet, jedoch sind aufgrund unterschiedlicher Sprachkenntnisse, die Endergebnisse der Tests meist schwächer. Seit Jahren wird diskutiert, inwieweit dieses Rating die Segregation beeinflusst. Manche Forscher:innen argumentieren, dass es keinen direkten Einfluss hat, da lokale Behörden auf die Zusammensetzung der Schulklassen achten. Nach neueren Erkenntnissen beeinflusst das Schulrating indirekt jedoch den Wohnungsmarkt.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
In England gibt es eine lange Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und schulischen Diskriminierungsverhältnissen, ethnischen Minderheiten und Rassismus. In Bezug auf Initiativen gegen institutionelle Diskriminierung wird Großbritannien ein Vorbildcharakter zugeschrieben. Maßnahmen für Equality und Diversity in Schulen werden von der Ofsted [4]-Behörde kontrolliert.
Der Diskurs über Migration ist in Österreich bislang mehrheitlich defizitorientiert. Teil davon sind die nationalistischen, populistischen Töne der rechten Parteien und die sture Haltung der konservativen Parteien gegen Bildungsreformen. Die Grundlage der Diskurse über Migration scheint immer noch die Fiktion einer homogenen Gesellschaft zu sein.
Separate Klassen für Schüler:innen mit anderen Erstsprachen wurden in England schon Mitte der 1980er als Maßnahme gegen Diskriminierung abgeschafft. Dem Ansatz des „Mainstreaming“ wird jedoch auch Assimilierung vorgeworfen, da dieser Ungleichheiten ausblendet und alle Schüler:innen homogenisiert. Schulen können jedoch ihre eigenen Förderprogramme „Interventions“ planen.
In Bezug auf Konzepte für Schüler:innen mit anderer Erstsprache ist das Deutschfördermodell in Österreich erst seit wenigen Jahren bindend. Die anderen Modelle werden wegen mangelnder Ressourcen oft zu wenig umgesetzt. Durch die Möglichkeit als „außerordentliche:r Schüler:in“ am Unterricht teilzunehmen, bietet Österreich zwar Maßnahmen für heterogene Bedürfnisse, Expert:innen empfehlen jedoch ein integratives Modell mit additiven Angeboten. Gänzlich separate Klassen werden strikt abgelehnt, vor allem weil soziale Durchmischung beim Erlernen von Sprachen eine bedeutsame Rolle spielt.
In beiden Ländern stellen die hohen Anforderungen an die Landessprachen für Kinder mit anderen Erstsprachen eine große Hürde dar. Dies hat wiederum mit Identitätspolitik, Dominanz- und Machverhältnissen zu tun und führt zu Chancenungleichheit und Selektionsprozessen. Die Landessprache kann daher laut Forscher:innen als Machtinstrument interpretiert werden u. a. um die nationale Identität zu erhalten – dies trifft auf beide Länder zu. Auch die Behörde Ofsted wird dahingehend in Großbritannien kritisiert.
Es gibt wesentliche Unterschiede in den schulischen Selektions- und Segregationsprozessen beider Länder. In Österreich werden Schüler:innen mit anderer Erstsprache sogar oft nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet, was eine erhebliche Diskriminierung darstellt. In England hingegen dürfen nur Kinder mit Förderbedarf im Sinne von „SEND“ (Special Educational Needs and Disability) für Förderschulen bzw. Programme angemeldet werden (wie z. B. Hör- oder Sehschwächen). Heidi Schrodt zeigt auf, dass in Österreich, Schüler:innen mit anderen Erstsprachen durch die frühen Selektionsprozesse nicht den Weg in höher bildende Schulen finden, wie sie prozentuell in der Bevölkerung vertreten sind.
In England kommt es hingegen erst nach der Sekundarausbildung im Alter von 16 Jahren zu einer zentralen Selektion. D.h. in England bleibt den Schüler:innen mit anderer Erstsprache mehr Zeit für ihre sprachliche Entwicklung, bevor es zu solchen Selektionsprozessen kommt. Dies ist ein ausschlaggebender Faktor für bessere Chancengleichheit, Wahlmöglichkeiten und Bildungschancen.
Das beschriebene Schulrating wird in England als direkter oder indirekter Mitverursacher der Wohnraumsegregationgesehen. Diese ist in England teilweise intensiv, denn dort wo die Lebensbedingungen prekär sind, leben überproportional viele Migrant:innen.
Dieser Faktor ist in Österreich nicht gleich intensiv, aber relevant. Die Expert:innen weisen daher wiederum auf die Wichtigkeit von sozialer Durchmischung im Bildungsbereich hin. Es sollte trotz Wahlfreiheit auch auf eine Quote geachtet werden. In Bezug auf die Ausbildung von Pädagog:innen gibt es in England seit 2002 verpflichtende Lehrveranstaltungen zum Thema Diversität und Sprachenvielfalt. In Österreich sind in den letzten Jahren mehr Projekte und Zusatzausbildungen zu verzeichnen, jedoch sind die Themen Migration, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität noch immer ein Randgebiet im verpflichtenden Lehrangebot für Pädagog:innen. In beiden Ländern mangelt es oft an Ressourcen für mehrsprachige Schüler:innen und auf den Lehrpersonen lastet Druck alles unterzubringen. Dies bedeutet, Herausforderungen wie diese sind komplex und gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen spielen eine große Rolle. Inhaltsleere Sündenbock-Politik, die Kinder als mediale, politische Zielscheibe instrumentalisiert, ist jedenfalls fehl am Platz.
[1] Multikulturalismus geht der Frage nach, ob und wie nationalen und zugewanderten Minderheiten als Gruppe bestimmte Rechte und Förderungen zugestanden werden sollen, um bestehenden Benachteiligungen entgegenzuwirken und das Zusammenleben gerechter zu gestalten.
[2] Das Abstammungsprinzip knüpft an die Staatsbürgerschaft der Eltern an.
[3] Dissimilaritätsindex nach Jenkins, Micklewrigth & Schnepf 2008.
[4] Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills.

