Der folgende Artikel wurde von vielen Gesprächen mit syrischen Menschen in den Diasporas angeregt. Er untersucht, wie die verändernde Politik des Libanon und die ungewisse Zukunft Syriens ihr Leben prägen. Der Text erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund der gebotenen Kürze und der Komplexität der Lage in beiden Ländern können nur einige wenige Aspekte dargestellt werden.

Von Anja Pilchowski

Zahlreiche Syrer:innen flohen kurz nach der brutalen Niederschlagung des syrischen Volksaufstands 2011 in die benachbarten Länder Libanon, Jordanien oder die Türkei. Andere nahmen den Landweg über den Balkan oder den Seeweg über das östliche Mittelmeer, um nach Europa zu gelangen. Im Libanon wurden Syrer:innen für Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht oder beschuldigt, einen Bevölkerungsaustausch zu forcieren – rechte Narrative, die überall auf der Welt verwendet werden, um Flüchtlinge als unerwünschte „Andere“ zu konstruieren. Aufgrund ihrer prekären Aufenthaltssituation im Libanon wurden einige Syrer:innen auch entführt, um Lösegeld von ihren Verwandten zu erpressen, oder am Arbeitsplatz ausgebeutet. Ihre Lage verschärfte sich täglich und erreichte mit dem Beginn des israelischen Angriffskriegs gegen den Libanon am 1. Oktober 2024 ihren Höhepunkt. Wie alle anderen mussten sie dann innerhalb des Libanon fliehen oder sogar unfreiwillig in das vom Assad-Regime regierte Syrien zurückkehren.

Nun musste nicht nur die libanesische Regierung von einer Übergangsregierung zu einer echten Regierung werden, um die Waffenstillstandsabkommen umzusetzen, die den israelischen Angriffskrieg am 27. November 2024 beendeten, sondern auch das Regime von Bashar al-Assad wurde am 8. Dezember 2024 gestürzt. Für viele Syrer:innen im Libanon brachte dies jedoch nicht die erhoffte Erleichterung. Nach über einem Jahrzehnt der Flucht vor Krieg und Verfolgung sind die Syrer:innen im Libanon nun erneut mit Unsicherheit konfrontiert. Die neue, noch immer instabile Übergangsregierung in Syrien, die anhaltende Gewalt und die wirtschaftlichen Probleme machen einen Wiederaufbau nahezu unmöglich. Im Libanon gerät die neue Regierung zunehmend unter Druck, die Syrer:innen hinauszuwerfen. Kurz nach dem 8. Dezember 2024 wurden, wie in etlichen europäischen Staaten (darunter Österreich), auch im Libanon Stimmen rechter Politiker:innen laut, die forderten, Syrer:innen müssten zur Rückkehr nach Syrien aufgefordert oder gleich dorthin abgeschoben werden.

Situation in Syrien

Die Lage in Syrien ist komplex und wird es auch noch viele Jahre bleiben. Die syrische Übergangsregierung steht unter Druck, Syrien so schnell wie möglich wieder zu vereinen und zu stabilisieren. „ […] viele Syrer:innen begegnen ihnen mit Argwohn, angesichts ihrer jihadistischen Herkunft und unbekannten Absichten“, schreibt die Crisis Group Ende März. Viele Akteur:innen würden diese Komplexität gern verringern. Eine Strategie die man derzeit auch weltweit bei vielen etablierten Regierungen beobachten kann. Dieser Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu simplifizieren, birgt die Gefahr einer Homogenisierung der Gesellschaft und der Gefährdung marginalisierter Gruppen und ethnischer und religiöser Minderheiten.

Seit Dezember 2024 dokumentiert die Organisation Guardians of Equality Movement (GEM), Syriens erste Organisation für queere Menschen, in Zusammenarbeit mit Menschenrechtsaktivist:innen schwere Menschenrechtsverletzungen gegen queere Personen in Syrien. Zu diesen Verletzungen zählen Fallen, die via Dating-Apps gestellt werden, Überfälle, Entführungen, willkürliche Verhaftungen, Folter, Demütigung, Androhung von körperlicher Gewalt und Entstellung sowie erzwungenes Filmen oder öffentliche Bloßstellung. Diese Menschenrechtsverletzungen wurden sowohl von der Übergangsregierung nahestehenden Gruppen als auch von nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen verübt. Anfang März 2025 kam es in den syrischen Verwaltungsbezirken Tartus, Latakia, Homs und Hama zu Zusammenstößen zwischen den als „Shabiha“ bezeichneten Personen und den neuen syrischen Streitkräften. Der Begriff „Shabiha“ bezeichnet Personen, die in Milizen organisiert sind, die dem ehemaligen Assad-Regime treu ergeben sind. Unter diesen Zusammenstößen hatte auch die Zivilbevölkerung zu leiden. Hunderte Menschen wurden getötet und Tausende in den Nordlibanon vertrieben. Andere flüchteten auf dem Seeweg nach Zypern. Ca. 80 solcher Flüchtlinge wurden von Zypern ohne Asylverfahren in libanesisch-syrische Gewässer zurückgedrängt. Damit verstieß Zypern bewusst gegen das Völkerrecht und verschärfte die ohnehin schon prekäre Lage der Schutzbedürftigen. Eine Möglichkeit, alle Minderheiten – nicht nur religiöse – an einer Regierung zu beteiligen, könne ein Abkommen sein ähnlich dem Taif-Abkommen, das 1989 den Bürgerkrieg im Libanon beendete.

Eine weitere Schlüsselfrage für die Zukunft Syriens wird sein, wie die Übergangsregierung und die künftige(n) Regierung(en) mit den Taten des Assad-Regimes und deren Folgen umgehen. Für die Überlebenden des Regimes ist es entscheidend, dass ein funktionierendes Justizsystem aufgebaut wird und ehemalige Anhänger des Regimes umfassend strafrechtlich verfolgt werden. Insbesondere während des Regimes von Bashar al-Assad wurden Menschen verschleppt, gefoltert, getötet und verschwanden, wobei die Lebensgrundlagen vieler Menschen dauerhaft zerstört wurden.

Ganze Stadtviertel liegen in Trümmern. Viele Schulen wurden zwar wiedereröffnet, aber 30–50 % der Schulgebäude können aufgrund von Kriegsschäden, Zerstörung oder des Gebrauchs für andere Zwecke noch immer nicht genutzt werden. Etwa 40–50 % der Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren gehen noch immer nicht zur Schule. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt die Gesamtkosten für den Wiederaufbau Syriens auf 200 Milliarden US-Dollar. Die 2013 gegründete humanitäre Organisation White Helmets half Gemeinden bei Schutzmaßnahmen bei Angriffen, der Reaktion darauf und dem Wiederaufbau danach. „In diesem historischen Moment des Wiederaufbaus“, erklärt die Organisation, „erhöhen wir die Anstrengungen bei medizinischer Notfallversorgung, der Reparatur wichtiger Infrastrukturen und helfen Millionen von Familien sicher nach Hause zurückzukehren“. Die Kürzung der Hilfe durch US-Aid ist in dieser schwierigen Situation ein schwerer Schlag für die White Helmets.

Darüber hinaus verfolgen die Türkei, Israel und der Iran weiterhin ihre eigenen Ziele und setzen ihre Interventionen in Syrien fort. Laut Crisis Group drohen diese externen Interventionen, zu langfristiger Fragmentierung und einem erneuten Bürgerkrieg zu führen.

Die Lage im Libanon

Jüngste Erhebungen unterstreichen den Einfluss der EU-Politik auf die Migrations- und Asylpraxis in Westasien. Als größter Geber erkannte die EU schon früh, dass der Libanon eine entscheidende Rolle dabei spielt, Flüchtlinge und Migrant:innen von Europa fernzuhalten. Daher hat die EU seit 2011 erhebliche Mittel bereitgestellt. Dieser externe Einfluss ist zwar wichtig für das Verständnis der Steuerung von Migrant.innen- und Flüchtlingsbewegungen, es gilt allerdings auch die politischen Dynamiken im Libanon zu berücksichtigen. Die EU-Politik befürwortet im Allgemeinen die Integration von Flüchtlingen in die lokale Gesellschaft, während die Regierungen in der Region oft temporäre Maßnahmen bevorzugen, die eine langfristige Integration verhindern. Der Libanon wandte über zehn Jahre verschiedene Taktiken an, um Syrer:innen zur Ausreise zu bewegen, u.a. Kriminalisierung, Marginalisierung, Illegalisierung durch befristete Aufenthaltsgenehmigungen und Zwangsabschiebungen nach Syrien. Die meisten Syrer:innen im Libanon widersetzen sich diesem Druck bis heute. Umfragen des UNHCR zeigen übereinstimmend, dass sie nicht zurückkehren werden, solange sich die Lage in Syrien nicht verbessert. Die anhaltenden Konflikte im Libanon und in Syrien, die durch Israels Vorgehen verschärft werden, machen eine Rückkehr nach Syrien noch unwahrscheinlicher.

Syrer:innen leben überwiegend in Grenzstädten wie Trablus (Tripolis), oder in Dörfern im Osten oder Süden des Libanon sowie in ärmeren Vierteln der Hauptstadt Beirut. Selbst in Trablus, mit seiner libanesisch-syrischen Geschichte wo Syrer:innen und Libanes:innen seit langem sehr eng zusammenleben, sind antisyrische Ressentiments weit verbreitet. Dennoch gibt es auf beiden Seiten anhaltende Bemühungen um ein friedliches und fruchtbares Zusammenleben. Viele Syrer:innen haben Geschäfte eröffnet oder arbeiten mit Libanes:innen zusammen. Sie haben daher mehr Gründe, im Libanon zu bleiben, als nach Syrien zurückzukehren. Auch NGOs wie Utopia Lebanon bieten in Trablus vielfältige Aktivitäten an, fördern die Interaktion zwischen verschiedenen Gemeinschaften und stärken den sozialen Zusammenhalt.

In Beirut gibt es unterschiedliche Viertel für unterschiedliche Gemeinschaften. Es gibt christliche Viertel, schiitische Viertel und Viertel, in denen viele Syrer:innen leben. Eines dieser syrischen Viertel ist Bourj Hammoud. Die Lage der Syrer:innen in Beirut ist unsicher. Regelmäßig kommt es zu gewalttätigen Übergriffen aus der Bevölkerung oder seitens der libanesischen Armee. Obwohl auch Beirut kein „Safe Space“ ist, gilt es in Westasien als Zufluchtsort für queere Menschen. In Beirut sind viele NGOs ansässig, die sich für queere Personen einsetzen, sie unterstützen und versuchen, ein sichereres Umfeld zu schaffen. Eine dieser Organisationen ist Sawtonna, die von einer queeren Person gegründet wurde, die aus Syrien in den Libanon geflohen ist. Sie hat nicht nur wegen der gewalttätigen Angriffe auf die queere Community, sondern auch wegen ihrer syrischen Herkunft und ihrem unsicheren Aufenthaltsstatus im Libanon, Ausgrenzung erfahren müssen.

Im Südlibanon ist das Leben noch schwieriger – nicht nur für Syrer:innen, sondern für alle Bewohner:innen. Der Grund sind die Angriffe Israels auf die Hisbollah oder zur Durchsetzung seiner fabrizierten Gebietsansprüche südlich des Litani-Flusses. Darüber hinaus machen die libanesischen Behörden den Syrern:innen das Leben zusätzlich schwer. Sie verbieten Hilfsorganisationen an bestimmten Orten ihre Dienste anzubieten, verhängen Ausgangssperren oder verbieten die Verwendung von Motorrollern, weil diese angeblich zu laut sind. Diese sind aber in dieser Gegend oft das einzige Transportmittel für marginalisierte Menschen. Aufgrund des Mangels an Unterkünften leben Syrer:innen oft in Zeltlagern auf Privatgrundstücken. In diesen Lagern zahlen Syrer:innen entweder Miete oder müssen für die Besitzer:innen arbeiten.

Wie Lagerbewohner:innen erzählen, hat UNHCR seine finanzielle Unterstützung für Syrer:innen gekürzt, da diese nun als Migrant:innen und nicht mehr als Flüchtlinge gelten. In der Praxis bedeutet dies, dass die Bewohner:innen nun täglich mit noch knapperen Ressourcen auskommen müssen. Viele versuchen, in der Landwirtschaft Geld zu verdienen. Doch wie in vielen anderen Ländern wird die illegalisierte Aufenthaltssituation auch hier ausgenutzt, um Menschen auszubeuten. Syrer:innen arbeiten oft viele Stunden in der Landwirtschaft, wobei Frauen nur fünf und Männer acht bis zehn US-Dollar pro Tag bekommen. Um die Lage der Syrer:innen in den Siedlungen im Südlibanon zu erleichtern, verteilen NGOs wie Cap Anamur nun auch Lebensmittelpakete, obwohl ihr Schwerpunkt eigentlich auf medizinischer Hilfe liegt.

Obwohl die libanesische Regierung immer wieder angekündigt hat, syrischen Schüler:innen den Schulbesuch nicht weiter zu gestatten, werden die Kinder, nachdem die libanesischen Schüler:innen heimgegangen sind, weiterhin in einer zweiten Schicht von UNHCR-Lehrer:innen unterrichtet.

Rückkehr nach Syrien

Im März 2025 machte die libanesische Regierung in Brüssel im Rahmen der Konferenz Supporting Syria: Addressing the Needs for a Successful Transition ihre Position deutlich: Der neue Außenminister Youssef Rajji erklärte, die Rückkehr syrischer Flüchtlinge sei nun zwingend erforderlich. Der Libanon unterstützt bereits Abschiebungen aus europäischen Ländern nach Syrien über den Flughafen Beirut. Kritische Stimmen warnen, dass diese Politik der Regierung den Libanon zu einem langfristigen Zufluchtsort für aus Europa ausgewiesene Syrer:innen machen könnte.

Die aktuelle Lage in Syrien hält viele Menschen von einer Rückkehr ab. Bisher sind nur wenige Syrer:innen aus der Diaspora nach Syrien zurückgekehrt, und die Internationale Organisation für Migration (IOM) warnt sogar vor einer Massenrückkehr nach Syrien, da dies die Lage vor Ort rasch destabilisieren könne. Eine wachsende Minderheit möchte zwar nach Syrien zurückkehren, aber verfügt nicht über die finanziellen Mittel. Schon die Rückreise ist teuer und viele müssten ihre Häuser entweder von Grund auf neu bauen oder die Ruinen renovieren. Dazu kommen noch hohe Investitionen in Solaranlagen oder Generatoren, weil es keine stabile Stromzufuhr gibt.

Selbst für jene, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, stellt der Mangel an Baumaterialien und Fachkräften eine schwierige Herausforderung dar. Viele junge Handwerker:innen flohen während des Regimes von Baschar al-Assad aus dem Land, und die, die blieben, sind jetzt mit dem Wiederaufbau ihrer eigenen Häuser beschäftigt. Wenn es kein Haus zum Wiederaufbau gibt, muss ein Haus gemietet werden. Doch die Mieten sind aufgrund des begrenzten Angebots gestiegen. Unter dem Assad-Regime wurden viele Immobilien von Haussitter:innen betreut, doch jetzt fordern die Besitzer:innen aus der Diaspora ihre Häuser zurück. Die vertriebenen Haussitter:innen tun sich schwer, am angespannten Immobilienmarkt eine Bleibe zu finden.

Syrien kämpft mit Kriegszerstörungen, fehlenden Mitteln für Regierungsgehälter, geschwächten Ministerien, gespaltenen Sicherheitskräften, wachsenden konfessionellen Spannungen, westlichen Sanktionen, die die Auslandshilfe einschränken, und den massiven israelischen Militärinterventionen. Angesichts dieser enormen Herausforderungen sollten ausländische Länder der neuen Führung beim Wiederaufbau helfen – anstatt alle Syrer:innen aufzufordern, sofort nach Syrien zurückzukehren.

Obwohl das Leben im Libanon den Syrer:innen viel abverlangt, ist die Rückkehr ins Herkunftsland oft keine Option. Die meisten Menschen setzen sich lieber mit den bekannten Widrigkeiten im Libanon auseinander als mit den unbekannten Widrigkeiten in Syrien. Andere Syrer:innen fliehen mit Booten aus dem Libanon in der Hoffnung auf eine gesicherte Existenzgrundlage. Diese Hoffnung zerschellte für eine Gruppe Geflüchteter an der Festung Europa, als sich am 17. März 2025 vor Zypern ein Schiffbruch ereignete. Man geht davon aus, dass nur zwei Menschen überlebten, wobei unklar bleibt, ob die zuständigen Behörden rechtzeitig Rettungsmaßnahmen ergriffen haben.