Die Geschichte von Ameer Alfuraiji, der aus Bagdad aufbrach, um zu leben, in Tirol Wurzeln geschlagen hat und doch weiter seiner Herkunft verbunden bleibt.

Von Susanne Meier

Ameer Alfuraiji hatte die schönste Kindheit, die man sich nur vorstellen kann: Barfuß mit den Geschwistern und Freunden umhertoben, Fußball spielen – wild und frei hat er sich gefühlt, geliebt und geschützt im Kreise der Familie. Und das, obwohl schon damals der Krieg im Irak wütete und das Land von Armut, Hunger und Tod überschattet war. „Als Kind habe ich all die Probleme des Krieges nicht wahrgenommen“, erzählt der heute 35-Jährige bei einem Gespräch in einem Kaffeehaus in Innsbruck. Die Schwierigkeiten des Heranwachsens in einem Land voller Konflikte beginnen für ihn mit etwa 13 Jahren. Damals wird ihm bewusst, dass er nie sicher sein kann, ob er seinen Vater wiedersieht, wenn der morgens zur Arbeit geht. Gute zehn Jahre später entscheidet sich Ameer, dass er so nicht leben kann: „Ich bin nicht gegangen, weil ich nicht sterben wollte, sondern, weil ich leben wollte.“

Aufbruch mit ungewissem Ziel

Die Flucht von Ameer Alfuraiji beginnt am 30. Juli 2015. Er fliegt von Bagdad nach Istanbul. Noch weiß er nicht, dass es eine Flucht ist. Vielleicht bleibt er in der Türkei? Vielleicht kehrt er nach einem Monat zu seiner Familie zurück? Seine Eltern ahnen bei der Verabschiedung, dass sie ihren Sohn nicht wiedersehen werden. Ameer entscheidet sich bald dazu, dass es nur vorwärts gehen kann. Europa wird sein Ziel und das seiner irakischen Freunde, die er unterwegs kennenlernt. Gemeinsam beschließen sie, nach Izmir zu fahren. Ameer zahlt € 1.200,- für die Überfahrt mit einem Schlauchboot von Izmir nach Griechenland. Ungefähr 50 Minuten dauert die Überfahrt. Erzählen kann Ameer darüber mehrere Stunden lang. Wie sie mitten in der Nacht in einen ausgebauten Kühltransporter klettern mussten, der so voll mit Menschen war, dass er kaum atmen konnte. Wie die Schlepper bewaffnet waren, sie beschimpften und er sich so still verhalten musste wie nie in seinem Leben zuvor. Wie er sich die besorgten Worte des Vaters in Erinnerung rief, bloß nicht in ein Schlauchboot zu steigen, da er nicht schwimmen konnte. Wie mitten auf dem Meer plötzlich der Motor ausging und er für die längsten Minuten dachte, dass er sterben würde. Wie dieser schwarze Teppich aus Wasser vor ihm lag, über ihm riesengroß die Sterne leuchteten und rundherum Dunkelheit.

Nach der Überfahrt durchquerte Ameer Nordmazedonien, Serbien und Ungarn. Er kam in Wien an und fuhr direkt weiter nach Innsbruck. Ein Freund hatte ihm erzählt, dass es in Innsbruck sehr schön ist. Den Namen seines neuen Wohnortes konnte er damals noch nicht richtig aussprechen: Innsbruck.

Acht verlorene Jahre

Der Weg, um sich in der Tiroler Landeshauptstadt ein neues Zuhause aufzubauen, sollte noch lang und beschwerlich werden. „Im Asylverfahren habe ich acht Jahre meines Lebens verloren“, erzählt Ameer. In dieser Zeit musste er vier Mal die Unterkunft innerhalb Tirols wechseln. Nach einem Negativbescheid im Jahr 2017 bekam er einen weiteren Termin vier Jahre später. Das Bundesverwaltungsgericht entschied im Jahr 2023, dass Ameer asylberechtigt ist. Die Richterin entschuldigte sich für die lange Verfahrensdauer.

Trotz der Unsicherheit lernte er so gut Deutsch, dass er die B2-Prüfung und die Dolmetsch-Prüfung bestand. Er war ehrenamtlich aktiv in einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige geflohene Jugendliche und im Altenheim. Heute arbeitet Ameer als Kindergartenassistent. Den Kindern möchte er ermöglichen, dass sie genauso eine schöne Kindheit haben wie er sie hatte.

Der Löwenzahn schlägt Wurzel

Außerdem hat Ameer einen eigenen Verein gegründet, der geflohene Menschen beim Ankommen in Österreich unterstützt. „Hindiba“, der Name des Vereins, ist das arabische Wort für Löwenzahn. Das Besondere am Löwenzahn ist, dass er beinahe überall Wurzeln schlagen kann. Der Verein bietet Deutschkurse an. Bald wird es auch einen Arabischkurs geben. Gemeinschaftsaktivitäten wie Feste in Unterkünften für geflohene Menschen, zu denen die Nachbarschaft eingeladen wird, sind ein weiterer Angebotsschwerpunkt.

Ameer weiß, dass Innsbruck nie seine Heimat sein wird. Zu sehr fühlt er sich mit seiner Familie und seinen Erinnerungen im Irak verbunden. Aber er ist glücklich, dass er Sicherheit, einen Job, ein Dach über dem Kopf und Freund:innen in Österreich hat. Er hat sich damit arrangiert, ein Leben in zwei Welten zu führen. Auch wenn das nicht immer leicht ist, macht es sein Leben doch weiter, reicher und vielfältiger. Ameer weiß es zu schätzen, dass er zwei Möglichkeiten zu leben kennt: zwei Sprachen, zwei Kulturen, zwei verschiedene Lebenswelten. Aber freiwillig hat er dieses Leben nicht gewählt.