No Borders Navy
„Die EU führt einen unerklärten Krieg gegen People on the Move“, ist die Diagnose von vielen Menschen, die sich gegen den Tod im Mittelmeer stemmen und Menschen in Seenot retten. Dieser unerklärte Krieg fordert weiterhin seine Opfer, aber durch den Einsatz einer Flotte von SAR(Search an Rescue)-Booten und inzwischen auch Suchflugzeugen konnten in den vergangenen zehn Jahren Tausende vor dem Ertrinken gerettet werden. Chris Grodotzki ist Fotograf und Journalist und war (nicht nur als solcher) seit ihrer Gründung der Seenotrettung-NGO Sea-Watch eng verbunden. Sein Buch über diese zehnjährige (Erfolgs?)Geschichte ist keine chronologische Auflistung von Ereignissen oder Anekdoten, sondern eine abwechslungsreiche multiperspektivische Auseinandersetzung mit Geschichte, Selbstverständnis, Krisen und Lernprozessen der zivilen Seenotrettung seit 2015. Aus den engagierten, aber chaotischen Anfängen von Sea-Watch hat sich eine ausschließlich durch Spenden gut finanzierte Organisation mit fest angestellten Crews entwickelt. Nachdem in den Anfängen die Behörden sich zwischen Zusammenarbeit und Obstruktion bewegten, folgten mit dem zunehmenden Rechtsruck immer heftigere Schikanen bis zu blanker Repression. Grodotzki geht auch auf historische Vorläufer der heutigen Retter:innen ein und stellt den zivilgesellschaftlichen Widerstand, der das Retten von Menschen in dieser Situation darstellt, in einen weiteren Kontext. Auch die kritische Reflektion der eigenen Arbeit, zwischen kompromissloser Verteidigung der Menschenrechte und White Saviourism, kommt nicht zu kurz. Insbesondere die Dialoge mit dem österreichischen Theologen, Sozialwissenschafter und Sea-Watch-Piloten Jakob Frühmann und der Juristin und Skipperin Morana Miljanovic gehen sehr tief und sind geeignet, auch die politische und moralische Position der Leserin/des Lesers zu überdenken. Abschließend geben noch 15 Mitkämpfer:innen einen Ausblick auf Gegenwart und Zukunft der Seenotrettung. Auch wenn es neben allen Erfolgen viele Rückschläge gab und die Bedingungen für diese Form radikaler Menschenrechtsarbeit angesichts faschistischer Regierungsbeteiligungen in etlichen EU-Ländern immer schwieriger wird, werden die kleinen und großen Schiffe der No Borders Navy weiter auslaufen, weil wie Jakob Frühmann sagt: „aufgeben tut man einen Brief“.
Chris Grodotzki: Kein Land in Sicht. Zehn Jahre zivile Seenotrettung im Mittelmeer.
Wien 2025, mandelbaum verlag. 296 Seiten, € 20,-
Vom zarten Schmerz eines Migrantenkindes
Was muss man alles zurücklassen, um zur perfekten Migrantin zu werden? Toxische Pommes, österreichische Kabarettistin und TikTokerin, hat ein Buch über ihr Leben und damit auch über diese Frage geschrieben. Als Tochter eines Serben und einer Montenegrinerin, die in Österreich aufgewachsen ist, musste sie doppelt so viel leisten wie die anderen, um zu ihrem Doktorat zu kommen. Obwohl Klassenbeste in der Volksschule, war für ihre Lehrerin klar, dass für dieses Kind nur die Hauptschule in Frage kommt. Da half es auch nichts, dass sie mit blonden Haaren und blauen Augen als „schönes Ausländerkind“ galt.
Während Mutter und Tochter ihren Weg gingen, blieb der Vater, einst engste Bezugsperson, auf der Strecke. Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Toxische Pommes bringt es so auf den Punkt: „Da angeblich zu viele Ausländer da waren, die den Österreichern ihre Jobs wegnahmen, blieb ihm nichts anderes übrig, als der faule Ausländer zu werden, der nicht arbeiten wollte.“
Humorvolle Passagen, wie etwa über die jährliche Balkan-Reise, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein zarter Schmerz das treibende Gefühl im Erstlingswerk der Autorin ist. Spätestens der letzte Absatz macht es klar: „Was hat uns Österreich gekostet? Meinen Vater seine Stimme, meine Mutter ihre Lebendigkeit. Und mich? Meinen Vater.“
ERH
Toxische Pommes: Ein schönes Ausländerkind, Wien 2024, Paul Zsolnay Verlag. 206 Seiten, € 23,70

