Umfassender Sammelband mit Potential zum Standardwerk
Das Buchcover ist schon ein bisschen trist: Eine grau in grau gehaltene Ansammlung von Geschirr, ein alter angebissener Brotlaib auf einem Heizkörper. Zum Lesen lädt es nicht so richtig ein, befürchtet man doch bei diesem Anblick eine bevorstehende Kraftanstrengung, die es benötigt, um sich mit den Verhältnissen der Versorgung schutzsuchender Menschen in unserem Land auseinanderzusetzen. Liebe Leser:innen, nehmen Sie Ihre Kraft zusammen – es lohnt sich!
20 Jahre Grundversorgung – Grund zur Sorge? ist ein gelungenes Einführungswerk über das Leben geflüchteter Menschen in Österreich und empfehlenswert für all diejenigen, die im Bereich Flucht und Asyl beschäftigt sind oder sich für die tatsächlichen Lebensrealitäten geflohener Menschen interessieren. Die Herausgeber:innen Dani Krois, Herbert Langthaler und Lisa Sommerauer haben einen Sammelband erstellt, der nicht nur über die Entwicklung der Versorgung Asylsuchender berichtet, sondern einen umfangreichen Einblick in sämtliche Fallstricke des österreichischen Asylsystems gewährt. Dabei legen die Autor:innen – ein Who’s Who der österreichischen Integrations- bzw. Inklusionsszene – besonderen Wert auf eine ausgewogene, sachliche Einordnung sich positiv etablierter Aspekte der Grundversorgung und der klaren Benennung erheblicher Mängel, auch im europäischen Vergleich.
Eine Stärke des Sammelbands ist das Abbilden unterschiedlicher Perspektiven: Es kommen professionelle NGO-Mitarbeitende, Wissenschaftler:innen diverser Fachrichtungen, ehrenamtliche Helfer:innen, Betroffene und Landesrät:innen zu Wort. In elf Erfahrungsberichten erzählen Asylsuchende aus verschiedenen Herkunftsländern wie es ihnen mit der Grundversorgung ergangen ist, wofür sie dankbar sind und womit sie sich schwergetan haben.
Die Autor:innen sind sich darin einig, dass die Einführung der Grundversorgungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern, die im Mai 2004 in Kraft trat, einen Meilenstein in der Entwicklung der Versorgung Schutzbedürftiger darstellt. Vorher seien ein Drittel der Asylbewerber:innen in Bundesbetreuung und zwei Drittel obdachlos und unversorgt gewesen, erinnern sich Dani Krois und Lisa Sommerauer in 20 Jahre Grundversorgung für Geflüchtete – Rückblick und Bestandsaufnahme.
Positiv wird hervorgehoben, dass Asylsuchende durch die Grundversorgung seit mehr als 20 Jahren krankenversichert sind und Zugang zu Versorgung und Unterbringung haben.
Aber bekannterweise ist nicht alles eitel Sonnenschein. Im Buch werden eine Vielzahl an Kritikpunkten detailliert beschrieben und Änderungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Die Kritik bezieht sich unter anderem auf die zu niedrigen Tagsätze, die unzureichende Versorgung vulnerabler Gruppen und die Hürden zum Eintritt in den Arbeitsmarkt.
In ihrem Erfahrungsbericht über das Leben in einer Grundversorgungseinrichtung schreibt Sara: „Wir Menschen haben das Leben füreinander schwierig gemacht. Wir brauchen alle Ruhe und wir können versuchen, einander nicht den Frieden zu nehmen und es kostet nicht viel freundlich zu sein.“ Das politisch etablierte Narrativ über Asylsuchende als „Sicherheitsrisiko“ bestätigt Saras Wahrnehmung darüber, wie schwierig wir Menschen uns das Leben untereinander machen. Nur ein paar Seiten weitergeblättert erklärt Ing. Christian Pewny von der FPÖ, seit 2023 Integrationslandesrat in Salzburg, dass er sich für die Grundversorgung eine Umstellung von Geld- auf Sachleistungen sowie die sofortige Umsetzung einer Bezahlkarte wünscht, „um die Anreize, in Österreich um Asyl anzusuchen, so weit wie möglich zu minimieren“. Für manche Menschen bleibt Freundlichkeit trotz allem Geld der Welt unerschwinglich.
Für alle politisch Verantwortlichen, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, geflohene Menschen beim Ankommen und Bleiben in Österreich zu unterstützen, ist dieses Jubiläumswerk dringend zu empfehlen.
Susanne Meier
Dani Krois, Herbert Langthaler, Lisa Sommerauer (Hrsg.): 20 Jahre Grundversorgung – Grund zur Sorge? Wien 2024, Löcker Verlag. 420 Seiten, € 29,80
Vom „Ihr“ zum „Wir“
Der Titel täuscht: Mama, bitte lern Deutsch ist kein Buch, das einem Deutschzwang-Diktat Vorschub leisten will, schon der Untertitel Unser Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft verrät es. Das autobiographische Debüt des 29-jährigen Tik-Tok-Stars Tahsim Durgun ist vielmehr ein Buch voller Geschichten aus dem Leben einer kurdisch-yezidischen Familie, die in Deutschland lebt und sich gegen Abwertung, Ausgrenzung und brutale Bürokratie zur Wehr setzt. Und es ist eine Liebeserklärung an seine Mutter.
Die 200 Seiten sind schnell und locker zu lesen, aber es ist keine leichte Lektüre. Witz, Zynismus, Authentizität und schonungslose Offenheit sind die Zutaten, die Durgun hier wie in seinen Social-Media-Videos – mit mittlerweile hunderttausenden Follower:innen – als Erfolgsrezept einsetzt. Etwa, wenn er sein 14-jähriges Alter Ego beim Besuch der Ausländer:innenbehörde, die ihm und seinen in Deutschland geborenen Geschwistern den Aufenthalt aberkennen möchte, beschreibt. Als er und seine Mutter die desinteressierte und empathielose Sachbearbeiterin als Mutter einer Mitschülerin Tahsims identifizieren, eskaliert die Situation. Tahsims Mutter wird wütend und erklärt ihm später: „Ich bin immer sauer, wenn wir uns in ihre Behörde begeben müssen, wo ich mich wie ein demütiges kleines Kind benehmen muss – vor einer Frau, die so alt ist wie ich. Vor einer Frau, die mich kennt. Vor einer Frau, die ich sein könnte, wenn ich woanders geboren wäre.“ Und sie sagt: „Wie kann es sein, dass Hunde in diesem Land Pässe kriegen, … aber meine Kinder kriegen keinen Aufenthalt?“ Tahsim erkennt und schätzt das sprachliche Talent seiner Mutter, aber: „Dass meine Mutter für ihre Sprachgewandtheit nicht anerkannt wird, liegt vor allem daran, dass die Sprachgewandtheit nicht auf Deutsch stattfindet. Denn es gibt eine rassistische Hierarchie der Sprachen, in der Kurdisch ganz unten steht.“
Ein schöner Einfall Durguns ist es, die Kapitel so zu benennen, als könnte seine Mutter ihm die Bedeutung von Fachbegriffen der deutschen Sprache erklären. „Mama, was sind Alliterationen?“ heißt eines. Die Mutter kennt die Wörter, die am Ende des Kapitels als Erklärung stehen, aus ihrer Lebenserfahrung: Angst, Andersartigkeit, Abfälligkeit.
Als Jugendlicher hat Durgun beschlossen, alles zu tun, um sich die Sprache der Menschen anzueignen, die über ihn und seine Familie verfügen: Er beginnt, angespornt von einer Lehrerin, Bücher und Zeitungen zu lesen. „Ich wollte dafür sorgen, dass ich, dass wir, irgendwann genug sein würden“, so Durgun. Mit dem Bachelor in Deutsch und Geschichte und einem Lehramtsstudium hat er sein Ziel erreicht. Und wohl auch mit dem Erfolg seines Buches, das einen Monat nach seinem Erscheinen Anfang März bereits in 4. Auflage gedruckt wurde. Ein gutes Zeichen!
ERH
Tahsim Durgun: Mama, bitte lern Deutsch. Unser Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft. München 2024, Droemer Knaur. 208 Seiten, € 19,95
Gegen populistische Rhetorik.
„Jeder ist jemand“, dieses Zitat von George Tabori ist ein wichtiger Leitgedanke in dem Buch Ankommen des in Bosnien geborenen und jetzt international erfolgreichen Politikwissenschafters, der Österreich seine zweite Heimat nennt.
Das Buch ist jedoch nicht nur ein Rückblick auf seinen Weg von Bosnien nach Österreich, sondern auch eine durch Reflexion und literarische Texte ergänzte Schrift darüber, was Ankommen für Menschen auf der Flucht tatsächlich bedeutet. Welchem Flüchtling ist Ankommen in einer Gesellschaft wie der österreichischen überhaupt möglich und unter welchen Bedingungen?
In chronologischer Abfolge mit dazwischen eingeflochtenen Überlegungen nimmt der Autor uns mit auf seine Flucht vor Krieg und Angst aus Bosnien Anfang der 90er Jahre. Das Ziel der Familie war eigentlich Kanada, man landete in Traiskirchen.
Schon im Vorwort betont Dzihic: „Die autobiographischen Elemente sollen den Leser:innen jene Gefühle vermitteln, die stellvertretend für all jene Flüchtlinge und Migrant:innen stehen, die auf der Suche nach einem neuen Zuhause im heutigen Europa sind. Das Buch ist eines über das Österreich der letzten 30 Jahre, zugleich aber auch eines, das die Konturen der Verrohung vieler europäischer Gesellschaften nachzeichnet und Wege auslotet, um anzukommen und endlich sagen zu können: ‚Ich bin auch jemand, jeder ist jemand.‘ “
Sein menschliches und kluges Buch ist berührend, seinem Vater Abdullah gewidmet, der es im Gegensatz zum Sohn nicht zu dem ersehnten Ankommen geschafft hat. Eine Leseempfehlung für alle, die den einfachen Antworten populistischer Rhetorik und Politik misstrauen.
K.J. Vedran Dzihic: Ankommen. Wien 2024, Verlag Kremayr&Scheriau. 112 Seite, € 20,-

