
Einige besonders gefährdete Gruppen, wie die Roma-Gemeinschaften, erdulden den Krieg als doppelte Belastung – als Bürger und Bürgerinnen eines Landes, das sich verteidigt, und als Gruppe, die seit Jahrzehnten mit Diskriminierung, Armut und sozialer Isolation zu kämpfen hat.
Von Julian Kondur
Millionen von Menschen leiden unter dem Krieg, den Russland seit 2014 gegen die Ukraine führt. Seit der Ausweitung auf eine vollumfängliche Aggression im Februar 2022 haben sich auch Tod und Zerstörung vervielfacht.
An der Front und im Hinterland
Entgegen dem weit verbreiteten Vorurteil, dass Roma den Militärdienst meiden, gibt es in vielen Roma-Familien Soldaten, die sich freiwillig an die Front gemeldet haben. Nach einer Studie der Nichtregierungsorganisation Roma Foundation for Europe (2024) hat etwa jede vierte Roma-Familie einen Verwandten, der in den ukrainischen Streitkräften dient, und ein großer Teil davon sind Freiwillige. Ihr Beitrag bleibt oft unbemerkt – ebenso wie ihre Verluste.
Diese Beispiele von Opferbereitschaft stehen im Kontrast zur täglichen Realität vieler Roma-Gemeinschaften, die aufgrund fehlender persönlicher Dokumente immer noch keinen Zugang zu grundlegenden Rechten haben.
Wenn eine Person auf dem Papier nicht existiert
Eines der größten Probleme, mit denen Roma in der Ukraine seit Jahrzehnten zu kämpfen haben, ist das Fehlen persönlicher Dokumente wie Geburtsurkunden, Reisepässe und Dokumente über das Eigentumsrecht an Wohnraum.
Schätzungen zufolge haben in einigen Regionen (Transkarpatien, Odessa, Donbass vor der Besetzung) bis zu 30 bis 40 % der Roma gar keine oder nur unvollständige Dokumente.
In Friedenszeiten bedeutete das, dass sie keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Arbeit hatten. In Kriegszeiten geht es um das Überleben: Ohne Papiere können sich Roma nicht als Binnenvertriebene registrieren lassen, bekommen keine humanitäre Hilfe und können die Grenze nicht überqueren, um einen sicheren Ort zu finden. Besonders gefährdet sind Roma-Kinder, die in nicht funktionierenden Systemen oder isolierten Gemeinschaften geboren wurden.
Ohne Geburtsurkunde können sie nicht in der Schule angemeldet werden, keine Impfungen oder staatliche Unterstützung bekommen.
Diskriminierung in einer neuen Dimension
Viele Roma mussten wegen der Kämpfe ihre Häuser verlassen – vor allem in den Regionen Donezk, Luhansk, Cherson, Saporischschja und Charkiw. In den Orten, wo sie Zuflucht suchten, mussten sie sich mit einer neuen Welle der Diskriminierung auseinandersetzen. In einigen Gemeinden haben lokale Behörden oder Freiwillige sich geweigert, Roma-Familien zu registrieren oder ihnen zu helfen. Das verstärkt unter den Roma das Misstrauen gegenüber dem Staat und das Gefühl, im Stich gelassen zu werden.
Nichtstaatliche Roma-Organisationen, wie die internationale Wohltätigkeitsorganisation Roma Women’s Fund Chirikli, helfen den Roma seit Jahrzehnten dabei, Dokumente zu bekommen, bieten Rechtshilfe und sammeln Infos über die Bedürfnisse der Gemeinden. In den Jahren 2022 bis 2024 hat sich diese Arbeit noch verstärkt: Über ein Netzwerk von Roma-Mediatoren wurden Tausende von Familien bei der Dokumentation, Evakuierung und der Beschaffung von medizinischer und humanitärer Hilfe unterstützt.
In sieben Regionen wurden lokale „Sozialatlanten“ erstellt, die reale Daten über die Roma-Bevölkerung, ihre Bedürfnisse, ihre Wohnverhältnisse und Probleme beim Zugang zu Dienstleistungen enthalten. Gleichzeitig zeigt die Erfahrung, dass diese Initiativen ohne die Einbeziehung des Staates keine nachhaltigen Ergebnisse bringen werden.
Wohin geht die Reise für die Ukraine?
2023 wurde eine neue Strategie zur Förderung der Rechte der Roma bis 2030 verabschiedet. Aber trotz der guten Absichten wird sie bisher kaum umgesetzt. Einige lokale Behörden ignorieren die Bedürfnisse der Roma-Gemeinschaften einfach oder haben nicht die Mittel, um Integrationsprogramme umzusetzen.
Das größte Problem ist immer noch, dass es keinen systematischen Mechanismus zur Registrierung von Menschen ohne Papiere gibt. Die Ukraine hat noch kein vereinfachtes Verfahren zur Identifizierung von Personen anhand von Zeugenaussagen eingeführt, wie es internationale Organisationen empfehlen. Gerichtsgebühren sind für Roma immer noch unerschwinglich, und die rechtlichen Verfahren sind intransparent.
Der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg wäre eine Chance für einen Neuanfang – nicht nur für die Infrastruktur, sondern auch für den sozialen Vertrag. Die Roma, die das Land an der Front verteidigen und im Hinterland unterstützen, müssen nicht nur symbolisch, sondern auch durch konkrete Maßnahmen anerkannt werden: Anerkennung von Dokumenten, Vereinfachung von Verfahren, gleicher Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, Integration in Wiederaufbauprogramme.
Die europäische Integration der Ukraine ist ohne die Bekämpfung des Antiziganismus nicht möglich. Nur durch die volle Teilhabe aller Gemeinschaften – auch der Roma – kann die Ukraine einen inklusiven und gerechten Staat aufbauen.
Julian Kondur ist Koordinator der Romastiftung Chirikli in Kyiv. Übersetzung Jürgen Kräftner

