Man stelle sich vor: Regierungspartei A will sich nicht mehr an das geltende Recht halten. Sie erklärt daher, es gebe eine Gefahr für die Allgemeinheit. Aufgrund dieser Notlage sei es geboten, dass staatliche Behörden Grundrechte von Menschen außer Acht lassen sollten. A wird unterstützt von den Parteien B und C. So weit, so bedenklich.

Absurd wird die Geschichte, wenn man bedenkt, dass A eine „gesamtstaatliche Notlage“ in einem Bereich ausruft, den sie seit knapp drei Jahrzehnten ausschließlich selbst politisch verantwortet. Begründet wird es mit „dramatischen Zuständen“ in einem Bundesland. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass in diesem Bundesland ausgerechnet die notstandsmitbeschließenden Parteien B und C regieren.

Dieses theoretische Beispiel wird in Österreich Ende April mit Leben erfüllt: ÖVP (A), SPÖ (B) und NEOS (C) ermächtigen sich selbst, per Verordnung die Anwendung von EU-Recht im Bereich der Familienzusammenführung von Asylberechtigten auszusetzen. Es bestehe insbesondere aufgrund der Situation in den Schulen „eine Gefahr für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“. Was war passiert? In den vergangenen beiden Jahren habe die Einreise von ca. 17.000 Frauen und Kindern nach Ansicht der Regierungsparteien das Land mit seinen 9.000.000 Einwohner:innen überlastet, gesellschaftlichen Systemen würde der Kollaps drohen.

Das ist natürlich Unsinn: Das Bestehen von Druckstellen, vor allem in Wiener Volksschulen, ist unbestritten. Dass Wien seit Jahren die Hauptarbeit bei der Integration von Schutzsuchenden in Österreich leistet ebenso. Es ist aber ein allzu durchschaubares österreichisches Erklärungsmuster, dass an diesen hausgemachten Problemen wieder einmal „die Ausländer:innen“ schuld seien.

Das Triggern der EU-Notfallsklausel ist ein ideologisches Projekt: Der ÖVP-dominierte Österreichische Integrationsfonds führt etwa „höhere Geburtenraten bei Migrantinnen“ ins Treffen. Das Integrationsministerium wirft manipulierte Zahlen zur Sozialhilfe und zum Anteil „nicht-deutscher Umgangssprache“ von Volksschüler:innen ins Rennen.

Auf Lösungen abseits der Außerkraftsetzung von grundrechtlichen Garantien wartet man vergebens. Die Regierung suhlt sich im selbst herbeigeredeten Notstand. Zweifellos hat Bundeskanzler Stocker in einem Punkt Recht: Zur Umsetzung rechter Politik braucht es keinen Herbert Kickl. Und die FPÖ? Die lehnt sich zurück und feixt: „Wir haben Euch immer schon gesagt, dass die anderen Parteien den Laden an die Wand gefahren haben.“