Fast vergessen sind heute, zehn Jahre nach der großen Fluchtbewegung von 2015/16, die Konflikte, die damals Millionen Menschen in die Flucht trieben. Die Rede ist nur vom Bürgerkrieg in Syrien, weniger von jenem in Afghanistan. Der Genozid an den Jesid:innen wird meist verschwiegen, obwohl es hier zu Österreich einen starken Bezug gibt.

Von Alexander Behr

Am 3. August 2014 begingen die Mörderbanden des so genannten Islamischen Staates am Fuße der Shingal-Berge im Nordirak einen Genozid an den dort lebenden Jesid:innen. Mehr als 7.000 Menschen wurden ermordet, über 6.000 Frauen und Mädchen wurden vom IS verschleppt; mehr als 300.000 Menschen flohen. Kurdische und jesidische Kämpfer:innen bildeten zum Schutz der Flüchtenden einen Korridor, der auf die Shingal-Berge führte, wo die Verteidigungseinheiten von Shingal YBŞ, die syrischen Volksverteidigungseinheiten JPG und die PKK postiert waren. Dennoch überlebten viele die Flucht nicht. Sie starben an Wassermangel und an den Strapazen des Anstiegs.

Ein Jahr später, am 28. August 2015, wurden im burgenländischen Parndorf in einem Kühllaster 71 Menschen tot aufgefunden. Sie wollten über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland reisen, von der Hoffnung getragen, Krieg und Terror zu entfliehen – unter ihnen Jesid:innen, die dem Massaker von Shingal entkommen waren.

Delegation ins Shingal-Gebirge

An einem Junimorgen 2016 erreichte mich ein Anruf: Ich sollte am nächsten Morgen für das ORF-Radio nach Erbil aufbrechen und über die Delegationsreise des Europaparlamentariers Joseph Weidenholzer und des Nahost-Experten Thomas Schmidinger ins Shingal-Gebirge berichten. Die Delegation hatte die Aufgabe, die Verbrechen zu dokumentieren, die der IS an den Jesid:innen begangen hatte. Außerdem sollte politischer Druck aufgebaut werden, damit Frauen, die aus der Gewalt des IS befreit wurden, nach Europa gebracht und dort medizinisch und psychologisch behandelt werden konnten.

Während des Flugs setzt mich Weidenholzer ins Bild: Die Massaker vom August 2014 waren vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht als Genozid anerkannt worden. Keinerlei Dokumentation hatte stattgefunden. Eine genaue Erhebung der Verbrechen sowie die Exhumierung der Gebeine sei allerdings unentbehrliche Grundlage für spätere Kriegsverbrecherprozesse. Nur durch die Sicherung der Beweisstücke könne garantiert werden, dass die Wahrheit nicht verfälscht werde, so Weidenholzer.

Zum Zeitpunkt unserer Reise stehen Teile der kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak nach wie vor unter der Kontrolle des IS; auch die Millionenmetropole Mosul hat die Terrormiliz fest im Griff. Die Lage der Binnenvertriebenen ist alarmierend. Allerdings sind einige Gebiete – so auch das Shingal-Gebirge – bereits von kurdischen und jesidischen Milizen zurückerobert worden.

Um in die gleichnamige Kleinstadt am Fuße des Shingal-Gebirges zu gelangen, muss unsere Delegation einen weiten Umweg zurücklegen: Denn der direkte Weg von Erbil aus würde durch die IS-Hochburg Mosul führen. So nähert sich unser Konvoi den Shingal-Bergen in schusssicheren Geländefahrzeugen von der Nordseite her.

Langsam schlängeln sich die Geländewagen die Serpentinenstraße entlang, die von den Anhöhen des Gebirges hinunter an die Südseite zur Stadt Shingal führt. Erst ein halbes Jahr zuvor fand die Entscheidungsschlacht um Shingal statt. Rechts und links der steilen Bergstraße liegen verkohlte Autowracks. Von hier blickt man weit nach Süden, bis zu den Dörfern, die nach wie vor in der Gewalt des IS sind.

Zeugnis der Tragödie von Parndorf

Abgesehen von den Einheiten der Widerstandskämpfer ist die Stadt praktisch leer. In Shingal zu übernachten, ist zu diesem Zeitpunkt undenkbar – zu groß die Gefahr, einem Angriff des IS zum Opfer zu fallen. Also fahren wir in die Provinzhauptstadt Dohuk. In der Lobby unseres Hotels treffen wir Hazim Kuli Ali. Die Angriff des IS veranlasste seine fünfzehnjährige Tochter, seinen sechzehnjährigen Sohn sowie einen Bruder im vergangenen Jahr, aus dem Nordirak nach Europa zu fliehen. Die Eltern sowie drei weitere Kinder blieben zurück, in der Hoffnung, bald nachkommen zu können.

Hazim Kuli Alis Angehörige erreichten ihr Ziel nicht. Sie verloren ihr Leben bei der Tragödie von Parndorf.

Die untergehende Sonne schickt letzte kraftvolle Strahlen durch die hohen Fenster des Hotels in Dohuk. Der Mittfünfziger mit dem dichten Oberlippenbart hält die Todesurkunden, die die österreichischen Behörden ausgestellt haben, in seinen Händen, dann zeigt er uns Fotos seiner Liebsten. Dann beginnt er mit leiser, aber fester Stimme seinen Bericht: „Das ist das letzte Foto, das ich mit meiner Familie gemacht habe, beim Grenzübertritt zur Türkei. Abreisedatum war der 5. August. Sie sind auf dem Landweg über die Türkei gereist – durch Wälder und in LKWs. Am 24. August haben sie dann geschrieben, sie verlassen Serbien; das war der letzte Kontakt, um 8:30 über WhatsApp. Sie haben einen weiteren LKW bestiegen. Danach gab es keinen Kontakt mehr. Nachdem sie in Serbien angekommen sind, haben wir uns gesagt, nun sind sie ja schon in Europa, da brauchen wir keinen Kontakt mehr aufnehmen, bis sie dann irgendwann ankommen. Denn – so sagten sie uns – jede:r, der:die in Serbien ankommt, sei schon in Sicherheit…“

Die letzten Sonnenstrahlen verschwinden hinter den Bergen, mit einem leisen Knattern springt die Deckenbeleuchtung der Hotellobby an. Hazim Kuli Ali nimmt die Todesurkunden und die Fotos seiner Liebsten und ordnet sie mit ruhigen, bedachten Bewegungen in einen ledernen Umschlag.

Die Tragödie von Parndorf löste eine Welle der Empörung aus. In Wien gingen zehntausende Menschen auf die Straßen. Kurz danach begann der Sommer der Migration, für wenige Wochen war das europäische Grenzregime paralysiert.

Der jesidische Befreiungskampf, die Fluchtbewegungen nach Europa und die Solidarität, die danach einsetzte, sind untrennbar miteinander verbunden. Das Andenken an die Toten kann davon nicht losgelöst werden. Es ist zentraler Bestandteil des Kampfes für Gerechtigkeit, Würde und gleiche Rechte für alle.